Was der Schreiber so liest (32)
Christoph Hein: Trutz (2017)
Jahrelang hatte ich die Lektüre von Christoph Hein vor mir hergeschoben, ja ich fürchtete mich ein wenig vor dem hochdekorierten Stückeschreiber und Schriftsteller. Im vergangenen Jahr wagte ich mich an „Horns Ende“ (1985), einem wie aus Stein gemeißelten Roman über ein individuelles Schicksal in den etwas schwereren DDR-Jahren. „Weisskerns Nachlass“ (2011) folgte, mein Lektüre-Vergnügen wuchs, zumal Hein hier mit mehr Leichtigkeit zu schreiben schien. Nun hatte ich „Trutz“ (2017) am Wickel, einen Roman, in dem er rückblickend und vorwärtserzählend über das Schicksal zweier Familien in drei Diktaturen berichtet. Der namensgebende Trutz, ein junger hoffnungsvoller und armer Schriftsteller im Berlin der 20er Jahre, muss mit seiner Frau aus Deutschland fliehen, als die Nazis die Macht ergreifen. Durch glückliche Umstände kommt er nach Moskau und ahnt nicht, dass von einer braunen in eine rote Diktatur gerät. Als „Erbauer der Metro“ – für deutsche Schriftsteller ohne Parteizugehörigkeit hat man in den 30er gerade keine Verwendung – kann er sich allmählich für den Traum vom Kommunismus erwärmen. Doch dann ziehen die dunklen Wolken der stalinistischen Säuberungen auf, ausgerechnet, als sich sein in Moskau geborener Sohn mit dem des Mnemonik-Professors Gejm befreundet …
In welch lakonischem Ton, mit welcher sprachlichen Effizienz und Präzision Christoph Hein mit dieser Geschichte zugleich Weltgeschichte erzählt, das hat etwas Packendes. Ich ertappte mich mehrfach dabei, wie ich Online-Enzyklopädien befragte: Wie war das mit Michail Tuchatschewski? Warum hat man von den ersten fünf Marschällen der Sowjetunion drei erschossen? Wer war Ernst Großmann? Und vor allem: Hat es Professor Waldemar Gejm wirklich gegeben? Hein flechtet die Schicksale seiner Protagonisten – und im Prolog gar seine eigene Geschichte – so mit realem Geschehen, dass man meint, man wäre dabei gewesen. Sein Hauptthema drängt sich nicht auf, wächst aber im Hintergrund: Ist es wirklich gut, ein phänomenales Gedächtnis zu haben? Wie gefährlich es ist, nicht vergessen zu können, wenn es Staatsdoktrin ist, vergessen zu wollen, vergessen zu müssen. Stark.
Der einzige Wermutstropfen für mich ist ein Zeitsprung: Was passiert mit Maykl Trutz eigentlich zwischen der Enttarnung Großmanns Anfang der fünfziger Jahre und dem Ende der DDR? Den Genuss dieses Buches kann das jedoch nicht schmälern. Nun will ich aber auch noch „Frau Paula Trosseau“ lesen, die steht ebenfalls auf meiner Wunschliste.