Mit fahrlässiger Tollkühnheit

Was der Schreiber so liest (29):

Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley (1955)

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Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley. Diogenes, 2002

Es gilt allgemein als verpönt, wenn man Krimis „spoilert“, wenn man dem Leser wesentliche Handlungselemente verrät, bevor er das Buch aufschlägt. Bei Patricia Highsmiths „Der talentierte Mr. Ripley“ darf man da getrost eine Ausnahme machen. Schließlich – es ist ja auch kein Geheimnis, dass Faust ein Verhältnis mit dem minderjährigen Gretchen eingegangen ist. Und Highsmiths Mr. Ripley ist nun einmal ein Monument. Jeder, der sich ernsthaft mit Kriminalliteratur beschäftigt – egal, ob als Leser oder als Schreiber – sollte Highsmith gelesen haben. Genauso wie die Bücher von Edgar Allan Poe und Agatha Christie, Raymond Chandler und Rex Stout, Petros Markaris und P.D. James, Arkadi Adamow und Polina Daschkowa, Andrea Camilleri und Henning Mankell, Horst Bosetzky (-ky) oder Michael Preute (Jacques Berndorf) … ich höre wohl besser auf.
Patricia Highsmith begründete ihren Ruhm vor allem darauf, die bis dato geltenden Konventionen des Kriminalromans vollkommen auf den Kopf gestellt zu haben. Bei Highsmith siegt das Böse über das Gute; der Mörder Ripley kommt davon.
So einfach? So einfach ist das nicht… Ich habe mich dabei ertappt, mich mit dem Mörder zu identifizieren, Sympathien für ihn zu entwickeln, zu überlegen, wie ich an seiner Stelle gehandelt hätte. Higsmith gelingt es mit der raffinierten Konstruktion „gegen  den Strich“ der meisten Kriminalromane, den Leser „umzudrehen“. Dabei zeigt sie ihm, dass Mörder keine geborenen Monster sind, dass das Böse möglicherweise jedem von uns innewohnt. Um das zu erreichen, muss sie keinem Zeitpunkt den Zeigefinger erheben. Sie moralisiert nicht, sie lässt uns einfach dabei sein, bei dieser atemlosen Hatz.
Tom Ripley ein junger und pfiffiger, wenngleich arbeitsscheuer Genießer und Lebemann, nutzt eine zufällige Gelegenheit, seinen Freund Richard „Dickie“ Greenleaf zu ermorden und dessen Identität anzunehmen, um mit den regelmäßigen Schecks von Greenleafs Vater ein sorgenfreies Leben führen zu können. Immer wieder stockt dem Leser der Atem, glaubt man, dass das schändliche Treiben des Übeltäters entdeckt wird. Doch in letzter Sekunde findet tricky Ripley immer wieder mit fast fahrlässiger Tollkühnheit und reueloser Naivität einen Ausweg. Um nicht entdeckt zu werden, begeht er einen zweiten Mord und plant ganz spontan und wie beiläufig einen dritten … Mehr Details würden dann freilich doch einem „Spoilern“ gleich kommen.
Das Buch aus dem Diogenes-Verlag, der seit 1933 die Weltrechte an ihrem Werk vertritt, liest sich flüssig, locker und unangestrengt – bei einem Buch dieser literarischen Bedeutung eine angenehme Überraschung.
Apropos Überraschung: Der Erfolg des ersten Ripley-Romans, der 1955 erschien, überraschte selbst Patricia Highsmith. Erst 15 Jahre später ließ sie den zweiten Ripley-Band folgen, insgesamt erschienen fünf. Sie stehen inzwischen alle auf meiner Lese-Wunsch-Liste.

 

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