Was der Schreiber so liest (18)
Henry Miller: Stille Tage in Clichy (1956)
Nimmt man den Begriff wörtlich als „Hurenmalerei“, dann hat Henry Miller mit „Stille Tage in Clichy“ tatsächlich Pornografie geschrieben. Millers Sohn Tony hört das nicht gern. „Man muss schon sehr verklemmt und böswillig sein, will man in diesem Buch, in dem Miller sein Leben in Clichy beschreibt, Obszönität oder irgend etwas Unrechtes entdecken“, schreibt er. Mich interessierte, wie Miller vor dem Hintergrund eines aktuell überbordenden und sich selbst schadenden Feminismus auf mich wirkt.
Es ist nur ein dünnes Heftchen, das der Rowohlt-Verlag derzeit anbietet. Gerade mal 138 Seiten im Taschenbuch-Format, in denen die Titelgeschichte (81 Seiten) und das dazugehörige Romanfragment „Mara Mignon“ versammelt sind. Ich hatte es aus meiner Jugend umfangreicher in Erinnerung.
Miller hat beide Fragmente vor dem autobiografischen Hintergrund seiner Pariser Jahre geschrieben – der Leser sieht das ausschweifende Leben der frühen 30er Jahre durch die Brille Millers. Ein Leben, dass sich zwischen hartem Broterwerb und hemmungslosem Genuss nur scheinbar zwischen zwei Extremen bewegte. Carl und Joey (Miller), zwei schreibende Lebemänner, die keinen Sous auf der Naht haben, lieben das gute Essen, das Trinken, den Sex. Sobald sie zu Geld kommen, geben sie es eben dafür aus. Zwangsläufig geraten sie dabei in der Regel an Huren, sind aber nicht auf diese fixiert. Ihnen geht es um das Vergnügen – wenn sie dafür Geld ausgeben müssen, bitteschön. So entstanden episodenhafte, lebenspralle und heitere Beziehungs- und Menschenstudien, die zu lesen wahrlich ein Genuss sind. Natürlich ist es ein zutiefst chauvinistischer Standpunkt, der die Erzählperspektive des Werkes bildet. Ein anderer wäre Miller allerdings auch gar nicht möglich gewesen.
Sich über die Haltung Millers aufzuregen, wie es heute wohlfeil ist, würde heißen, sein ganzes Werk zu negieren. Allerdings: Wer die Bücher von Henry Miller lesen will, sei es nun Clichy, sei es der damals sexuelle Tabus berührende „Wendekreis des Krebses“, das postum veröffentlichte „Opus pistorum“ oder die berühmte Sexus-Nexus-Plexus-Trilogie, der sollte sich sputen. Denn wenn die derzeit im aufgeklärten Mitteleuropa zu beobachtende Talibanisierung von Kunst und Kultur mit solcher Vehemenz weiterbetrieben wird, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass die nächste Generation Miller nur noch unter dem Ladentisch kaufen kann.