Was der Schreiber so liest (20)
Max Frisch: Montauk (1975
Wer aus meiner Generation Max Frisch schon als Kind gelesen hat, der outet sich als westsozialisiert. Dort hat der Schweizer, den ich lange Zeit für einen Dramatiker gehalten habe, längst den Weg in den literarischen Schulkanon gefunden. Ich bin viel später auf den Mann aus dem kleinbürgerlichen Milieu gestoßen, der dann doch so ein abwechslungs- und erfolgreiches Leben führte.
Mit „Montauk“ griff ich mir ein Stück aus dem Spätwerk. Das von dem ich wusste, dass es am meisten autobiografisch eingefärbt ist. Denn genau darum ging es mir: Was geschah wirklich an diesem Wochenende auf Long Island, das Frisch 1974 mit der 32 Jahre jüngeren Alice Locke-Carey verbrachte?
Die Lektüre überrascht. Nicht nur in der auch sich selbst gegenüber schonungslosen Art, in der Frisch das Wochenende in Montauk seziert. Auch darin, dass meine Erwartungen als Leser so gar nicht erfüllt, sondern auf eine unerwartete Art noch übertroffen werden. Ich ertappte mich selbst, oder besser gesagt, Max Frisch ertappt mich bei meinem Voyeurismus, was mich regelrecht beschämt. Denn hier erzählt nicht ein 63-jährige Lustmolch von einem amourösen Abenteuer mit einer blutjungen Verlagsmitarbeiterin, hier erzählt ein ehrlicher Mann von seiner Liebe, seinen Zweifeln, auch Selbstzweifeln, seinem Können und seinem Versagen, kurz, seinem ganzen Leben. Eine Erzählung, bei der man sich unwillkürlich fragt, ob man Frischs Vertrauen, von dem solche Nähe und Intimität künden, denn auch verdient habe, wo man doch gerade noch in die Laken der Hotelbetten spähen wollte.
Dass Frisch in Montauk von seinem ganzen Leben erzählt, darf man ruhig wörtlich nehmen: Man erfährt über die an Dramatik und Leidenschaft so reiche Beziehung mit Ingeborg Bachmann und ihrem gemeinsamen Leben in Rom ebenso, wie über die Liebe zu seiner Frau Marianne oder über die schwere Zeit mit seiner ersten Frau Trudy (Gertrude von Meyenburg) im Nachkriegs-Berlin, eine Episode nur im Lebenslauf.
Frischs Alter Ego im Buch steht gleich ihm an der Schwelle der Zukunftslosigkeit und versucht, so menschlich wie möglich damit umzugehen. So macht Frisch den Leser zum Zeugen eines Wochenendes, wie es viele sein könnten und doch ein ganz besonderes war. Am Ende will er von diesem Wochenende erzählen, „ohne irgendetwas dabei zu erfinden“. Das macht er grandios, weil er dabei mit seinem Alter Ego regelrecht spielt. Beispiel gefällig? Hier bitte: „Sein Englisch ist bescheiden; ich weiß natürlich, was er jeweils sagen möchte.“ Schnell kann man unterscheiden zwischen dem, was Frisch in der Reflexion über sich erzählt, dann wählt er nämlich die Ich-Form, und der Beschreibung des Wochenendes mit Alice, die im Buch Lynn heißt, wobei er dann die Er-Form wählt. Damit geht er freilich auch auf eine gewisse Distanz zu sich selbst und schildert das Wochenende als reiner Beobachter.
Diese Distanz kann man natürlich auch dahin interpretieren, dass sich Frisch sehr wohl bewusst ist, dass ein tolles Wochenende eben nicht den Tiefgang mit sich bringt, der sich in einem ganzen Leben verbirgt. Schmerzlich die Erkenntnis des Protagonisten, der sich wünscht, Lynn wäre seine letzte Liebe.
Grundkenntnisse in Max Frischs Biografie sind keine Voraussetzung zum Lesen dieses Buches, aber hilfreich. Hat man sie, erweist sich „Montauk“ als Schlüssel zu seinem Werk. Für Schüler ist „Montauk“ freilich nichts. Vielleicht muss man ja selbst ein gewisses Lebensalter erreicht haben, um die notwendige Empathie für die Helden von Montauk aufbringen zu können. Dann aber verspricht das Buch hohen Lesegenuss.