Was der Schreiber so liest (19)
Daniel Kehlmann: Tyll (2017)
Ich sage das ganz selten, aus guten Gründen. Aber Daniel Kehlmanns jüngster Roman ist ein Buch, das mich von den Füßen reißt, das mich weghaut, das mich verzweifeln lässt, weil man nach einer solchen Lektüre das Schreiben aufgeben möchte. Schon „Die Vermessung der Welt“ (2005) war so ein Buch. „Ruhm“ (2009) knüpfte mit der brillianten Verflechtung von Figuren in ganz unterschiedlichen Geschichten an, wohingegen ich mit „F“ (2013) zugegebenermaßen nichts anfangen konnte.
Nun also Tyll.
Nicht die Kühnheit, die historische Figur des Tyll Ulenspiegel einfach ein paar hundert Jahre zu verschieben, beeindruckt an diesem Buch. Mich beeindruckt vor allen Dingen die Art, wie Kehlmann seine Geschichte erzählt. So sagt er nie, in welcher Zeit wir uns gerade befinden, er lässt es die Figuren zeigen. Er sagt nie, wer die Figur ist, die er gerade in den Mittelpunkt rückt. Man muss sich schon erschließen, dass es der Böhmenkönig Friedrich V. ist, der da neben Ulenspiegel im Mittelpunkt steht. Ohnehin sind die Kapitel über Friedrich und seine Liz (Elisabeth Stuart, eine auch historisch hochinteressante Figur) die raffiniertesten. Zunächst erzählt uns Liz aus ihrer Perspektive, dass und warum sie ihren Gemahl für nicht sehr helle hält. In einem späteren Kapitel aus Sicht von Friedrich erfahren wird, dass und warum er seine Gemahlin für nicht sehr helle hält. Zudem schildern sie historische Vorgänge durchaus verschieden – jeder hat seine Wahrheit, und keine davon kollidiert mit der Realität. Ganz großes Kino ist das.
Und natürlich spielen die (bekannten) Streiche des (echten) Ulenspiegel oder Eulenspiegel eine Rolle in dem Buch: Der sprechende Esel, die geworfenen Schuhe, das weiße Bild. Gerade die Geschichte mit dem Bild finde ich sehr gelungen – es hält denen, die sich wertvoller dünken, einen hübschen Spiegel vors Gesicht.
Bisweilen stellte ich mir die Frage, ob Kehlmann selbst der Gaukler auf dem Seil ist, wenn seine Sätze so lange bearbeitet wurden, bis jeder einzelne ein kleines Kunstwerk ist. Oder wenn er in der Chronologie der Ereignisse nach vorn und wieder zurück springt, als vollführe er Kunststückchen. Alles bleibt in der Schwebe, alles ist durchdrungen von kleinen und großen Spitzfindigkeiten, denen der Leser bereitwillig folgt. Wovon will er mich als Leser da ablenken, was macht er mit mir, während mir der Mund offen steht?
„Tyll“ ist, da mögen Titel und Einband täuschen, kein Schelmenroman. Kehlmann blättert in ihm eine Sittengeschichte des Dreißigjährigen Krieges auf – oft brutal, historisch korrekt trotz des verpflanzten Eulenspiegels, sprachmächtig, mit Tiefgang und dennoch hohem Unterhaltungswert. Für mich eindeutig sechs von fünf Sternen.