Was der Schreiber so liest (16)
Wolfgang Held, Mord in der Distel-Bar (1968, neu 2011)
Der Verleger Michael Kirchschlager drückte mir Ende vergangenen Jahres Wolfgang Helds „Mord in der Distel-Bar“ in die Hand. Es wurde 1968 unter dem Titel „Der letzte Zeuge“ veröffentlicht. Erst 2011 grub Kirchschlager das Buch wieder aus und ließ es als Band 1 der Reihe „Tatort Thüringen“ neu drucken. Doch ebenso wie 1968 blieb es auch 2011 bei einer Auflage – Kirchschlager stellte die Reihe alsbald wieder ein.
Mit „Mord in der Distel-Bar“ verarbeitete Wolfgang Held (1930-2014) einen realen Kriminalfall, der sich 1964 in Weimar ereignete, und bei dem Held als Gerichtsreporter der Zeitung „Das Volk“ ziemlich dicht dran war. In der „Distel-Bar“, einem Bierausschank in einer Weimarer Gartenanlage, wird eine Frau mit einem Hirschfänger ermordet, und dabei übel zugerichtet. Der Leser des Krimis begleitet die Ermittler der Volkspolizei bei ihrer Arbeit, die zu einem recht raschen Erfolg führt, auch wenn sich die Polizisten zunächst auf falschen Spuren verrennen. Der im Osten aufgewachsene Leser kann der Geschichte mit einem gewissen Amüsement folgen – vor dem geistigen Auge läuft dabei einer der Vorwende-„Polizeirufe“ oder, wie bei mir, der Kinderfilm „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“. Wolfgang Held zeigt sich in dem Kriminalroman als ein scharfsichtiger und feinsinniger Beobachter von Details und Zwischentönen, seine Protagonisten sind nur wenig klischeebehaftet, auch wenn Leutnant Hendrich mit seinem Modetick ein wenig bemüht daherkommt. Großartig die Passage über den ersten Polizei-Computer in der DDR-Hauptstadt, genannt „der schnelle Willi“ (Kap. XIV). Für die Weimarer Kriminalisten vergleicht er in atemberaubender Geschwindigkeit die per „Bildfunk“ gesendeten Fingerabdrücke. Aber er hat auch schon, so der Erzähler, bei der Lösung eines Falles von Fahrerflucht geholfen.
Leider hat das Buch offenbar weder in seiner ersten noch in seiner Neuauflage ein vernünftiges Lektorat erfahren. Nur ein Beispiel: Als der Bösewicht drei Mädchen daran hindern wollte, mit ihren Rädern loszubrausen, um die Guten zu alarmieren, ließ er sie die Lenker ihrer Fahrräder abschrauben und ins Kornfeld werfen. Eine Seite später flüchtete er auf einem der Fahrräder ins Tal (S. 106/107). Auch ein paar Dativ-/Akkusativschwächen fallen ins Auge. Wie gesagt, das hätte vermieden werden können.
Die Gesellschaftskritik, wegen der das Buch 1968 nur eine Auflage erfuhr, habe ich vergeblich gesucht. Sie wird erst nach der Lektüre deutlich: Kirchschlager hat ein Interview mit Held dem Buch nachgestellt. Darin erfährt man Näheres über die „wunderliche Betrachtungsweise der damals für literarische Publikationen maßgeblich mitbestimmenden Leute“ (Held). Kern des Unmuts, so habe Held erst später erfahren, war etwas, was eben nicht geschrieben wurde: „Daß die Ursache kriminellen Verhaltens, zumal bei Gewaltverbrechen, die im Kapitalismus herrschenden, erbärmlichen Lebensverhältnisse seien.“ Helds Mörder indes war einfach ein Ost-Schurke. Das freilich durfte nicht passieren.
Fazit: Relativ unterhaltsam und mit interessanten Einblicken in den DDR-Alltag.