Was der Schreiber so liest (17)
Sasha Marianna Salzmann: Außer sich
Schon seit Erscheinen hatte ich „Außer sich“ auf meiner Favoritenliste. Das Buch wurde von der Kritik ausgezeichnet aufgenommen und es landete auf der Short-List für den Deutschen Buchpreis 2017. Zudem mag ich, seit ich sie in einer Folge der „Kulturzeit“ gesehen habe, das Temperament und die Kraft, die von der Salzmann ausgehen. Ich war neugierig auf die Geschichte, die sie zu erzählen hat.
Und schon nach den ersten 30 Seiten war ich mehr verstört als begeistert. Wo bleibt sie nun, die Geschichte, fragte ich mich. Die angeblich so wortgewaltige Sprache, nun ja, wer auf lange und atemlose Sätze steht, die man zwei Mal lesen muss und manchmal dennoch keine Handlung entdeckt … Eine Geschichte erzählt Sasha Marianna Salzmann bis zum Ende nicht, es sind viele Geschichten, die
sie aneinanderreiht. Erinnert werden sie durch Alissa, eine junge Frau, die sich, in Russland geboren und nach Deutschland emigriert, in Istanbul auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder Anton macht. Episode an Episode wird aneinandergereiht, alles in einer seltsam anziehenden Sprache unfertig erzählter Stoff. Immer wieder befassen sich ganze Kapitel mit der Mutter, dem Vater, den Eltern der Mutter, den Eltern des Vaters und so weiter. Das ist eine tief verästelte Familienaufstellung. Das sind Leben, die sich ähneln, Leben, deren Schilderungen man sich anhört und die durchaus für sich immer wieder spannend sind, authentisch, ebenso dramatisch wie trist.
Alissa erzählt außer sich, wie eine Beobachterin ihres eigenen Lebens. In einer Schlüsselszene schlüpft sie auch buchstäblich aus ihrer Haut, schwebt über dem Tisch, an dem ihre Mutter ihr aus dem Leben erzählt.
Wann aus Alissa Ali wird, lässt sich nicht so genau feststellen – ihre Sexualität bleibt offen in alle Richtungen, offen für alle Geschlechter. Nach einer inzestuösen Szene, in der Alissa mit Anton schläft, beschleunigt sich die Transformation. Aus Alissa wird Ali wird Anton. Es gibt Rezensenten, die glauben, Anton habe es nie gegeben, er sei nur ein von Alissa projiziertes Wunschbild ihrer selbst. Das habe ich nicht so empfunden. Aber ich habe im Verlauf von „Außer sich“ gespürt, wie sich die Bedeutung der Geschlechter allmählich auflöst. Das war durchaus beeindruckend.
Insgesamt hinterließ mich das Buch ein wenig verstört, weil ich mir noch immer nicht sicher bin, was die Salzmann mir eigentlich sagen will, was sie zeigen will. Glaubwürdigkeit gewinnt das Buch durch die autobiografische Grundierung des Textes: Salzmann wurde 1985 in Wolgograd geboren und wuchs in Moskau auf, ehe sie zehnjährig als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland kam.
Und: Allein der Satz „…immer wieder blieben sie in Hauseingängen stehen und saugten sich die Gesichter aus den Köpfen, drückten die Becken gegeneinander und hörten auf, wenn sie Schritte hörten, …“ lohnt schon den Kauf des Buches.